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BÜHLER?

No. 36 | 2020/1

«Obacht Kultur» N° 36, 2020/1 erkundet ein vielen unbekanntes Dorf mitten im Appenzellerland: Bühler.

Auftritt: Brigit Widmer
Umschlag: Isabel Rohner
Bildbogen: Mark Staff Brandl
Texte: David Signer, Johanna Lier, Lea Sager u.v.m.

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Radar

Die wilde Seite

von David Signer

Mein Vater lebt in Bühler. Als Kind war ich regelmässig dort; von 15 bis 21 Jahren habe ich ganz dort gewohnt. Allerdings nicht im Dorf, sondern etwas ausserhalb, auf der Mehlersweid, unterhalb vom Saul. Es handelt sich um eine Art Weiler, eigentlich schon auf Innerrhoder Seite, fast könnte man sagen eine «Freie Republik» im Grenzgebiet, im Niemandsland. Wir kannten uns alle gegenseitig, spielten am Abend Volleyball, machten Musik, aber mit Bühler selbst hatten wir nicht viel Kontakt. Meine einzige Bekanntschaft im Dorf war eine Fixerin. Ich hatte sie eines Nachts am Bahnhof von Palermo kennengelernt, wo wir erstaunt feststellten, dass wir aus demselben Dorf stammten.

Am Wochenende kam jeweils meine Clique von der Kanti St. Gallen; ich hatte ein Zimmer in einer Remise, dort konnte man tun und lassen, was man wollte. Bald war die «Weid» bei Eltern und Lehrern berüchtigt. Wahrscheinlich hatten sie die wildesten Fantasien darüber, was wir dort alles trieben. Manche verboten ihren Söhnen und Töchtern, auf den verrufenen Hügel zu kommen, was ihn umso verheissungsvoller machte. Einmal kam eine Kollegin – Typ Späthippie – mit dem Appenzellerbähnli in Bühler an und wollte am Bahnhofkiosk nach dem Weg fragen. Die Verkäuferin unterbrach sie mit den Worten: «Ich weiss schon, wo du hinwillst.» Und wies ihr den Weg. 

Eines Samstagabends tauchte ein Lehrer unangemeldet auf. Er war Abteilungsleiter an der Kanti und wollte wohl das Sodom und Gomorrha endlich mit eigenen Augen sehen. Wir waren etwas bekifft, fanden alles absurd, was er sagte, und mussten unaufhörlich lachen. Etwas verwirrt ging er nach einer halben Stunde wieder ins Dorf hinunter. Es machte ihn wohl nervös, dass da etwas vor sich ging, was er nicht einordnen konnte. Die Kantonsschule war damals unglaublich spiessig, ein geistiges Gefängnis. Am nächsten Wochenende tauchten Polizisten für eine Razzia auf. Wahrscheinlich steckte der Abteilungsvorstand dahinter. Es wäre für diese Leute einfach gewesen, wenn sie alles, was ihnen fremd war, auf Drogen hätten reduzieren können. Aber sie fanden nichts.

Die meisten meiner Freunde flogen von der Schule. Ich realisierte, dass ich doppelt so gute Noten abliefern musste, wenn ich die Matura schaffen wollte. Also gab ich mir Mühe. Ich wollte ihnen den Gefallen nicht tun, mich loszuwerden. Mit 16 Jahren zog ich zu meiner Freundin in eines der Häuschen auf der Weid. Ein ehemaliger Hühnerstall, der früher als Besenbeiz gedient hatte, wo es auch lange nach Mitternacht noch hoch zu- und herging, weil es die Innerrhoder Polizei sowieso nie bis hierher schaffte. Im Winter heizten wir am frühen Morgen den Holzofen ein und fuhren mit dem Schlitten zum Bahnhof. Kaum jemand wusste, wo und wie ich lebte. 

«Ich zog in einen ehemaligen Hühnerstall auf der Weid, wo es auch lange nach Mitternacht noch hoch zu- und herging, weil es die Innerrhoder Polizei sowieso nie bis hierher schaffte.»

Drei Jahre später drückte mir der Abteilungsvorstand widerwillig das Maturadiplom in die Hand mit den Worten: «Ich hätte nicht gedacht, dass Sie es schaffen.» Ich arbeitete eine Weile für das Appenzeller Tagblatt. Erst damals lernte ich die Region kennen. Tag für Tag fuhr ich mit meinem Mofa durch die Gegend und berichtete über die Eröffnung eines Coiffeursalons in Wolfhalden, einen Streichmusikabend in Urnäsch oder eine Gemeindeversammlung in Gais. Ethnologische Entdeckungsfahrten. Als ich genug Geld beisammen hatte, brach ich zu einer langen Reise durch Afrika auf, das ich in gewisser Hinsicht nie mehr richtig verlassen habe. Die wilden Jahre in Bühler hatten mich gut darauf vorbereitet.

David Signer, geboren 1964, ist Ethnologe, Schriftsteller und Afrika-Korrespondent der NZZ. Er wohnt in Dakar (Senegal).

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