GOLDACH
No. 49 | 2024/2Das «Obacht Kultur» N° 49, 2024/2 geht dem Fluss nach.
Auftritt: Maria Tackmann;
Bildbogen: Sven Bösiger; Reinhard Tobler
Texte: Leta Semadeni, Valentin Lanz, Gioia Dal Molin u.v.m.
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Thema
Abgeschiedenheit und Weitsicht im «Birli»
von Agathe Nisple
Sich Heimat zu schaffen gehört zu den menschlichen Urbedürfnissen. Das ausserhalb des Dorfes Wald gelegene Atelierhaus «Birli» der Schlesinger-Stiftung bietet Künstlerinnen und Künstlern verschiedener Sparten eine Heimat-Oase auf Zeit. Das öffentlich ausgeschriebene und jeweils für ein Jahr vergebene Atelierstipendium, zu dem Wohnrecht und Monatsgeld gehören, wird so zum temporären Rückzugsort kreativer Geister. Befinden sich Gastateliers in der Regel in pulsierenden Metropolen, prägen hier Abgeschiedenheit und Ruhe den Alltag, aber auch die Landschaft mit Weitsicht in die appenzellische Hügellandschaft. Sie bilden ein inspirierendes Refugium für ausschweifende Fantasien, konzentrierte Denkarbeit und künstlerische Forschungen, aber auch für ausgedehnte Erkundungen in der Umgebung. Von besonderer Anziehungskraft ist der wilde Abstieg über Wiesen und durch Wälder zur Goldach oder dem Moosbach, einem ihrer Zuflüsse.
Der Ort scheint mystische Energie zu entfalten, und nicht selten bedeutet das Jahr im «Birli» für die Kunstschaffenden eine grundlegende Wende in ihrem Leben. Nicht wenige entscheiden sich, im Appenzellerland und in der Ostschweiz zu bleiben, so etwa Beate Rudolf, Peter Mettler, Felix Boekamp oder Maria Tackmann – wobei nicht selten auch die Liebe mitspielt.
Hin und wieder finden Veranstaltungen für die Öffentlichkeit statt, die Einblick geben in die Arbeit und das Leben der «Birli»-Gäste und sowohl bei der Dorfbevölkerung als auch bei Kunstschaffenden der Region und darüber hinaus auf Interesse stossen. Die Künstlergruppe «Gelitin» beispielsweise baute zu ihrem Abschied in einer Lichtung beim Moosbach ein temporäres Schlammbadeloch. Asi Föcker und Raoul Doré luden unter anderem zur «Langen Nacht der Erwartungen» mit spiel-, natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Streifzügen. Und Komponist Carlos Hidalgo präsentierte gemeinsam mit Filmemacher Peter Mettler das Videosound-Konzert «Farbklang– Klangfarbe». So wird der abgeschiedene Ort zwischendurch zur lebendigen Begegnungsstätte. Könnte man all die Erinnerungen und Projekte, die in diesem fruchtbaren Kosmos entstanden sind, ins Bild bringen, entstünde ein bunter Strauss sichtbarer Verbindungen zum «Birli».
Cristina Golland und ihre Familie etwa, die 2007 ein Jahr im «Birli» verbrachten, entwickelten eine tiefe Liebe zum Ort und zum Appenzellerland, begleitet auch von Heimweh nach dem «Birli». Immer wieder kehrten sie in der Folge zurück und pflegen bis heute verschiedene persönliche Beziehungen. Im «Birli» entstand auch Cristina Gollands Papierarbeit mit dem Titel «Die lauschenden Wissenden», die wie eine geheimnisvolle Hinterlassenschaft zum Atelier-Jahr anmutet: Kauernde Frauenkörper mit Trachtenhauben schmiegen sich in die Hügellandschaft und scheinen dem Klang der Erde zu lauschen. Aus ihren Rücken spriessen Pflanzen, und den Horizont bildet die pink gefärbte Alpstein-Silhouette.