Ausgabe

GOLDACH

No. 49 | 2024/2

Das «Obacht Kultur» N° 49, 2024/2 geht dem Fluss nach.

Auftritt: Maria Tackmann;
Bildbogen: Sven Bösiger; Reinhard Tobler
Texte: Leta Semadeni, Valentin Lanz, Gioia Dal Molin u.v.m.

Online blättern
Ausgabe bestellen

Thema

Fliessgewässer, Landschaft und Menschen

von Hanspeter Spörri

Im Geografieunterricht horte ich erstmals von der überragenden Bedeutung von Flusssystemen für die menschliche Zivilisation. Hans Hürlemann, der bekannte Urnascher Brauchtumskenner und Journalist, damals noch Sekundarlehrer in Teufen, erläuterte sie am Beispiel des Mississippi und verwies beiläufig auch auf die landschaftsprägenden Appenzeller Fliessgewässer. Nun steigt diese längst versunkene Erinnerung wieder auf, verbunden mit der Frage, wo Gründe für die offensichtliche Fortschrittlichkeit der Goldach-Gemeinden liegen mögen. 
Schon früher wanderte ich häufig entlang der Goldach, stieg hinunter zum Bach und steil hinauf zu einem der Dörfer. Manchmal ergab sich die Gelegenheit zu einem Schwatz. So lernte ich Lisa und Röbi Meier kennen. Vor fünfzig Jahren hatte Lisa eine kleine Erbschaft erhalten und wollte damit ein Haus kaufen. Sie löste ein Billett nach Herisau. Mit Hund, Schlaf- und Rucksack wanderte die Zürcherin durch den Kanton, um ein Haus zu finden. Etwas naiv sei sie aus heutiger Sicht gewesen, sagt sie. Sie folgte aber ihrer Intuition. Im Wirtshaus «Chastenloch» sprach sie mit der Wirtin Anna Tschopp, die ihr riet, sich bei den Besitzern einer Liegenschaft ganz in der Nähe zu melden. Diese waren glücklich, dass sich eine sympathische junge Frau für das renovationsbedürftige Haus interessierte. Bald war man sich handelseinig. Und bald kam Röbi dazu. Das Paar betrieb Landwirtschaft, hielt Kühe, ab und zu ein Schwein. Röbi, handwerklich geschickt, renovierte das Haus und setzte sein Talent sowie seine Erfahrungen fortan ein bei der Renovation weiterer Häuser in der Umgebung und gründete einen Einmannbetrieb. 
Bis heute sind Lisa und Röbi Meier erstaunt, dass ihnen damals die Kleinbauern beidseits der Goldach zwar skeptisch begegneten – «wir waren Hippies» –, sie aber unterstützten und ihnen ihre Tricks verrieten. Von den Bauern lernten sie, «wie man es richtig macht», wie man beispielsweise eine «Heuburdi» bindet, wie man sich diese auf den Rücken hievt, mit ihr die steile Heuleiter hochsteigt und sie in den Heustock kippt. Schwerarbeit. Lisa und Röbi Meier, die fast ihr ganzes Leben an der Goldach verbrachten, haben in den vergangenen Jahrzehnten den Wandel der Landwirtschaft, der Landschaft und der Gesellschaft erlebt. Die hilfsbereiten Kleinbauern von damals leben nicht mehr. Die Goldach ist zum «Schwellbach» geworden, der sich bei Unwettern schneller als früher in einen reissenden Fluss verwandelt. Die Artenvielfalt auf den Wiesen ist kleiner geworden. Auf ihrem Grundstück versuchen sie, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Es ist heute ein Naturparadies mit einer grossen Vielfalt an Kräutern und Blumen, die manchmal verteidigt werden müssen, wenn Vorbeiwandernde einen Strauss pflücken möchten. 
Fast zuoberst im Goldachtal wohnt Res Schiess. Die ihm gehörende Pannerherrenwies möchte er ökologisch aufwerten, den eingedolten Bachlauf freilegen, die Drainage rückgängig machen und die Quellen renaturieren. Zudem plant er, einen Amphibienweiher anzulegen und den Waldrand aufzuwerten. Der Boden soll wieder mehr Wasser aufnehmen können und einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass der Abfluss in die Goldach verlangsamt wird. Res Schiess ist ehemaliger IKRK-Delegierter und war später während zehn Jahren für die Humanitäre Hilfe des Bundes als Koordinator für zivile Notfallplanung und zivil-militärische Kooperation tätig. Im Kleinen gehe es bei dieser Renaturierung um das, was früher im Zentrum seiner internationalen politischen Arbeit stand: um Prävention. «Es ist offensichtlich, dass die Starkregen zunehmen und die Artenvielfalt abnimmt. Mit der Renaturierung der Wiese kann ich einen minimen Beitrag leisten, um dem entgegenzuwirken.» 
Die Tour rund um die Goldach führt mich auch zum Lehrer, Organisten und Dirigenten Hermann Hohl, der in Wald aufgewachsen ist und in Trogen wohnt. «Die Goldach ist ein Schwerpunkt meines Lebens», sagt er. Viele Jahre war er Fischer an der Goldach und legte immer grossen Wert darauf, dass das Gewässer gesund bleibt. Vor ein paar Jahren hat er dem Regierungsrat seine Gedanken zu den Gemeindefusionen unterbreitet, die seiner Ansicht nach entsprechend der topografischen Situation erfolgen sollten. Die Appenzeller Flüsse nehme er nicht als trennend, sondern als verbindend wahr. Speicher, Trogen, Wald und Rehetobel liegen aus seiner Sicht «an» der Goldach, nicht östlich oder westlich der Goldach. «Die vier Dörfer haben Sichtkontakt zueinander. Dies ist sehr wichtig. Ich bin überzeugt, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl dadurch gestärkt wird.» 
Ebenfalls mit der Goldach beschäftigt haben sich Hedi und Ueli Kohler. Bei einem Besuch in ihrem Haus in Rehetobel rätseln wir gemeinsam über die Auswirkungen der Landschaft auf die Menschen. Die Goldach und ihre Zuflüsse haben eine Geländekammer von ganz eigener Prägung geschaffen: Ein teilweise wildes, sich bei Hochwasser immer wieder veränderndes Tobel, darüber die Dörfer an sonnigen Hängen, oft über der Nebelgrenze. Auch Ueli Kohler, ein Bündner, ist vor fünfzig Jahren nach Rehetobel gezogen und hat in dieser Landschaft – er spricht von einer «Wanne» – seine zweite Heimat gefunden, einen Ort des Wohlseins. «Wir haben nicht nur Sichtkontakt mit Wald, Trogen und Speicher, wir hören sogar die Kirchenglocken der anderen Dörfer», bemerkt er: «Das verbindet.» Vielleicht hat sogar die politisch aufgeschlossenere Grundeinstellung der Menschen in den Dörfern an der Goldach mit der Landschaft zu tun, mutmassen wir. «Wenn es stimmt, dass die Landschaft die Menschen prägt, dann verhilft sie uns hier zu Weitblick und gleichzeitig zu Bodenhaftung und Tiefblick.» Das ist eine These. Beweisen lässt sie sich nicht.

zurück