Ausgabe

KULTURERBE

No. 47 | 2023/3

«Obacht Kultur» N° 47, 2023/3 spürt dem Kulturerbe nach.

Auftritt: Caroline Ann Baur;
Illustrationen: Sophia Freydl;
Bildbogen: Karin Bucher und Thomas Karrer; Georg Gatsas;
Texte: Margrit Bürer und Theres Inauen; Sarah Elena Müller; Andreas Geis u.v.m.

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Gedächtnis

Grossstadt trifft Alpfahrt

von Nathalie Büsser

Ethnologisch nüchtern betrachtet, ist das «Öberefahre» eine sehr alte Kulturtechnik und agrarische Wirtschaftsform. Rund um den Globus waren und sind nomadisch oder halbnomadisch lebende Menschen mit ihren Tieren unterwegs. Sie ziehen mit ihren Herden innerhalb einer Region von Futterplatz zu Futterplatz. Als Nicht-Sesshafte leben sie oft am Rande von Gesellschaften und sind Aussenseiter. Das Alpfahren oder Ans-Gras-Fahren ist also an und für sich nichts Aussergewöhnliches. Auch wenn die Tiere inzwischen öfter zeitsparend und weniger personalintensiv mit Transportern gefahren werden, gehört die Alpfahrt in verschiedenen Gebieten der Schweiz zum lebendigen Kulturerbe. Das Alpfahrt-Brauchtum ist aber unterschiedlich ausgeprägt: Wo die Bewirtschaftung der Alpen kommunal oder genossenschaftlich organisiert ist – vor allem in inneralpinen Regionen –, geht die «Züglete» weniger feierlich und teils unbemerkt vor sich. Im voralpinen Raum dagegen – rund um den Säntis, im Greyerzerland oder im Emmental –, wo die meisten Alpen privat bewirtschaftet werden und die Sennen ein ausgeprägtes, historisch gewachsenes Standesbewusstsein haben, wird die Alpfahrt farbig-festlich und mit viel Prunk gestaltet. Die Träger dieser traditionsstarken sennischen Kultur sind die Bewirtschafter oder Pächter der Alpen. Im Appenzellerland sind es die Senntenbauern.

Keine dieser feierlichen Alpfahrten aber ist so perfekt choreografiert und so grossartig gemacht wie die Appenzeller und die Toggenburger. Während die Innerschweizer Treicheln und die übergrossen, donnernden Schellen der Berner nur verstörenden Lärm machen würden, wie die Appenzeller sagen, verströmen die hiesigen Senntümer wohlige, harmonische Klänge: das Zauren der Sennen zu den drei aufeinander abgestimmten Senntumsschellen. Während andere Älpler ihre Kühe schmücken, schmücken die Appenzeller ihre Sennen – und zwar mit Kühen und Sennen. Mehr als siebzig Kühe – viele aus Gold, Silber oder Messing gefertigt – trägt ein Senn in der Festtagstracht auf sich: angefangen bei den silbernen Schuhschnallen, den beschlagenen Lederriemen zur Fixierung der Kniesocken, dem Sennenfetzen über den enganliegenden gelben Lederhosen, Taschenuhr, Sennenring, den Hosenträgern bis zum bestickten weissen Hemd mit einer Brosche am Kragen und zur Pfeife mit Metallbeschlägen. Das Ohr ziert ein auffälliger Ring mit einer vergoldeten «Schueffe» (Rahmkelle).

Am auffälligsten ist die silberne Sennenkette («Pättsch-», «Taalechettere»): das Prunkstück der Tracht und eine Provokation. Die Kette diente ursprünglich zum Befestigen der Taschenuhr, bevor sie zu einem Schmuckstück heranwuchs, das bis zu zehn Mal wertvoller war als die Taschenuhr selbst. Am Ende der mehrere Teilketten umfassenden Kette hängen alte Silbermünzen und miniaturisierte sennische Arbeitsgeräte wie Milchschöpfer, Striegel, Käserührer, Melkstuhl und Schöpfmass sowie Kühlein und Schlüsseli (zum Aufziehen der Uhr). Die Kette wird unter der Gürtellinie getragen. Das Ende der Kette hängt lose herunter und schwingt beim Gehen rasselnd umher. Viel, werthaltiger und demonstrativ zur Schau getragener Schmuck und auffällige Accessoires bei Männern – ein Phänomen, dem wir auch in der Grossstadt begegnen: in der Hip-Hop- und Rap-Szene. «Bling-Bling» heisst es hier «neu-mödig». Es ist eine global verbreitete Kulturtechnik, um Reichtum, Stolz und Gruppenidentität zu zeigen. Es ist kein Zufall, dass die Appenzeller ihr Bier mit der bekanntesten Schweizer Männertracht, den gelben Hosen, vermarkten, nicht aber etwa die Freiburger ihren Gruyère mit der weniger farbenprächtigen Greyerzer Sennentracht. Die Appenzeller haben mehr Bling-Bling und Stolz auf ihre Viehhabe und Lebensweise. Und, abgesehen vom Geissenmädchen, selten Frauen im Senntum. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nathalie Büsser, geboren 1971, ist Historikerin, Kuratorin am Appenzeller Brauchtumsmuseum Urnäsch und Custodin der Stiftung für Appenzellische Volkskunde. Sie arbeitet zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Historischen Seminar der Universität Zürich. Ihren «Chüeligurt» trägt sie nur in Zürich.

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