Ausgabe

Textil

No. 21 | 2015/1

«Obacht Kultur» No. 21, 2015/1 fädelt die Textilgeschichte auf u.a. mit Lina Bischofberger, Albert Kriemler (Akris), Christoph Tobler (Sefar). Auftritt: Alfred Sturzengger; Mode: Armando Forlin; Texte: Isabelle Chassot, Angelika Overath, Laura Vogt; u.v.m.

PDF (ohne Auftritt in der Heftmitte)
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«Obacht Kultur» N° 21, 2015/1 fädelt die Geschichte der Textilindustrie auf und verwebt sie mit der Gegenwart und der Zukunft. Die Begegnungen mit Lina Bischofberger, Albert Kriemler, John Böhi und Christoph Tobler öffnen den Blick auf ein vielschichtiges Panorama und den Innovationsgeist ostschweizerischen Textilschaffens. Während Isabelle Chassot diesen würdigt, stellt ihn Armando Forlin mit seiner Kollektion unter Beweis. Michaela Reichel schärft die Aufmerksamkeit auf die Sozialgeschichte. Frischluft bescheren Angelika Overath und Laura Vogt. Jürg Zürchers Fotos heutiger Webkeller, die Gedächtnistexte und ein Glossar sind Zeugen der vielschichtigen Entwicklungen. In der Heftmitte ruht eine Arbeit von Arthur Sturzenegger. Wie gewohnt beinhaltet die Frühjahrsnummer die Jahresberichte des Amts für Kultur und des Staatarchivs.

Web-Mehrwert

Ergänzende Inhalte zu
der gedruckten Ausgabe
Auftritt

«O.T.»

Alfred Sturzenegger, 20.10.2010

Grafit auf Papier, je 30 x 21 cm

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«Ausschnitte der BA Kollection «Golden Goat»»

Armando Forlin, 2013/2014
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«Inspirationen Teil 1»

Jakob Schlaepfer, 2014/2015

Von der Möbelmalerei inspirierte Textilien

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«Inspirationen Teil 2»

Jakob Schlaepfer, 2014/2015

Von der Möbelmalerei inspirierte Textilien

Video

«TVO-Beitrag zum Stummfilm 'Die Weber'»

TVO, 12.09.2014
Filmlink

Markus Dürrenberger gibt dem TVO Auskunft über seine Arbeit im Webkeller: Er vertont u.a. Stummfilme, hier illustriert am Beispiel des Films "Die Weber". Der umgenutzte Webkeller von Dürrenberger in Gais ist einer von sieben Webkellern, deren heutige Funktion Jürg Zürcher mit seiner Kamera dokumentiert hat.

Text

«Fensterblick 2»

Michaela Reichel, 2015

Wanted: «Industrielle Fähigkeit» statt «züchtige Hausfrau»

«Von sehr grossem Vortheile ist die Verfertigung der Leinwand, die hauptsächlich in Ausser-Rhoden stark betrieben wird, und ein ergiebiger Erwerbszweig für Reiche und Arme ist. Viele tausend Ellen werden jährlich da verfertiget, und von den Einwohnern theils im Lande selbst, theils in Trogen, wo im Jahre 1667 ein eigener Leinwand-Markt festgesetzt wurde, theils in St. Gallen, Rorschach und Arbon verkauft, und nachher nach Deutschland, Italien, Frankreich und noch weiter geliefert, wo diese Leinwand sehr bekannt und beliebt ist. […] Die Armen spinnen, spulen und weben, die Reichen aber verkaufen die fabricierten Tücher», beschreibt Gabriel Walser Mitte des 18. Jahrhunderts die wirtschaftliche Situation in Appenzell Ausserrhoden. Die Weberei hat zu diesem Zeitpunkt in der Region bereits eine jahrhundertelange Tradition.

Die Konzentration auf die Weberei entsteht aus wirtschaftlicher Not: Die Bevölkerung kann sich ab dem Mittelalter nicht mehr allein durch die Landwirtschaft ernähren. Flachs für Leinen wächst auch auf schlechten Böden, Arbeitskräfte gibt es mehr als genug – ideale Voraussetzungen für das Entstehen proto-industrieller Strukturen. In Heimarbeit werden zuerst Leinen- und dann Baumwollgewebe hergestellt. In vielen Kellern stehen Webstühle. Zu Beginn produzieren die Spinner und Weber noch in völliger Abhängigkeit von St. Galler Auftraggebern, seit etwa 1700 verhandeln die Appenzeller ihre Garne und Gewebe selbst europaweit. Produktion und Handel florieren, die Bevölkerungszahl verdoppelt sich auf 38‘000 Menschen, auch weil die Bewohner und Bewohnerinnen sich nicht mehr zur Auswanderung gezwungen sehen. Der Kanton ist vor allem bekannt für Spezialgewebe wie «Seidenbeuteltuch» zum Sieben von Mehl, besonders fein gearbeitete Musseline, Plattstichgewebe und später auch Stickböden.

Die Weberei verändert das Leben im Appenzellerland tiefgreifend: Nicht mehr die Natur bestimmt den Lebensrhythmus, sondern Angebot und Nachfrage auf den weit entfernten Märkten in ganz Europa. Die Menschen arbeiten mit vollem Risiko wie Selbstständige, hängen aber vollkommen von den «Fabrikanten» genannten Zwischenhändlern ab. In vielen Häusern gibt es aber zumindest erstmals etwas Bargeld. Trotzdem leben die Heimarbeiterfamilien von der Hand in den Mund: So verdient Anfang des 19. Jahrhunderts ein Weber wöchentlich 5.20 Franken, ein Spuler drei bis vier Franken. Insgesamt fliessen jährlich etwa drei Millionen Franken als Arbeitslöhne nach Appenzell Ausserrhoden.

Die klassischen Rollenbilder lösen sich auf: Frauen steigen in die Erwerbsarbeit ein, die Männer übernehmen mit dem Weben klassische Frauenarbeit. Die Kinder verrichten Hilfsarbeiten, mit zehn oder elf Jahren sitzen sie am Webstuhl und „erweben“ mehr Geld, als ihr Unterhalt den Eltern kostet. Die Wahl der Ehefrau bestimmt nicht das Ideal der «züchtigen Hausfrau», sondern «industrielle Fähigkeit» wie Berufserfahrung und Geschick – im Zweifelsfall kocht der Mann lieber selbst, als auf das Einkommen der Ehefrau zu verzichten. Um 1850 verrichten 40% der Frauen Arbeiten, für die sie einen eigenen Lohn bekommen! Das bedeutet natürlich nicht, dass die anderen 60% nicht mitarbeiten, sie erledigen nur Arbeiten, die nicht extra bezahlt werden. Die einzelnen Familienmitglieder beliefern oft verschiedene Auftraggeber, was das Risiko zumindest etwas streut.

Die Einführung mechanischer Spinnmaschinen und Webstühle Ende des 18. Jahrhunderts führt zu einer tiefen Krise; einzig die Plattstichweberei am Handwebstuhl floriert weiterhin. Ab den 1860er-Jahren steigen viele Weber auf die Maschinenstickerei um. Die Familien bilden kleine, in sich geschlossene Produktionsverbände, die gemeinsam – und das ist eine wesentliche Änderung zu der Zeit davor – einen einzigen Zwischenhändler beliefern. Der Konkurrenzkampf zwischen den Familien steigt und verändert neuerlich das Sozialgefüge.

 (Siehe auch No. 21 | 2015/1, Seite 46)

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«Ein Pariser Fenster mit Blick auf die Jungfrau»

Martha Keller, ca. 1970

Marta Keller (1909–1979) aus Walzenhausen beschreibt exemplarisch die verschiedenen Arbeitsschritte der Rideauxstickerei in der Spätphase, als mit Maschinen gearbeitet wurde. Das Besticken hätte ebensogut in Oberegg erfolgen können.

 

Ein Pariser Fenster mit Blick auf die Jungfrau

«Ebe-n-ini i üserem Huus im Güetli, im Schtübli onne, ischt a de Wand en Meterschtab mit de englische Maass Yard ond Inch gsi. Do dra häd de Vatter de Tüll ‹veschtaabet›, äbe ufs Maass grichtet, wo die bschtellte Vorhäng [Rideaux] hand möse ha. Mim Vetter Noldi bi de Groossmuetter im Leuche-n-us ha-n-i mengmol zueglueget, wie-n-er schöni Rose, Blacke-n-ond Girlande zeichnet ond die Linie denn gschtüpflet häd, bis de ‹Riss› fierti [= fertig] gsi ischt. Im Truckschtübli häd de Paul, üsere Knecht, de Riss uf de Schtoff gleit, ischt mit ener grosse Büerschte mit blau-schwarzer Farb drüber gfaare, ond uf de Onderlaag ischt denn d’Zeichni i fiine Linie zom Vorschii kho. Im Nebetschtübli häd d’Mueter oder d‘Mari, üseri Matt [Magd], uffenere lange Tafle [Tisch] di truckt Onderlaag uf de Tüll mit grosse Schtiche ufgheftet. De Fiergger Böhler vo Alberschwendi häd die rauh Waar all Wuche mit em Plachiwage is Vorarlbergisch gkholt, wo si im Bregezer Wald mit Kettelischtickmaschine gschtickt ond denn wider zruggprocht worde-n-ischt. Mini Schwöschtere hand etz no d’Fäde-n-usezüche möse, ond denn sönd die Vorhäng i de Blaachi [Bleicherei] Tobler z’Wolfhalde plaachet [gebleicht], appretiert ond schö zämmegleit worde. Üseri Uusschnideri, d’Jumpfere Meier von Büriswile, häd etz de vori Schtoff em Feschtoo [Feston] noi ond omm ali Blueme-n-ommi ganz exakt uusgschnitte, as joo di wiiss War uuni Hick ond Mose wieder zruggkho ischt. I grosse, wasserfeschte ‹Schtadtsäck› inn sönd denn die Vorhäng gi Sanggalle a d’Exportgschäfter abgliferet worde.»

(Siehe auch No. 21 | 2015/1, Seite 54)

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