Vorderland
No. 22 | 2015/2
«Obacht Kultur» No. 22, 2015/2 führt auf drei Streifzügen ins Vorderland u.a. mit Rolf Graf, Walter Graf, Erika Streuli und Davide Tisato. Auftritt: Christian Hörler; Texte: Erika Kronabitter, Walter Züst, Marcel Elsener; Bilder: Verena Schoch; u.v.m.
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«Im Dunkeln Tappen»
Christian Hörler, 2015Licht auf Thermopapier, 21 x 64 cm
gedruckt auf Profibulk 60g/m2
«Gesammelte Lichter mit und ohne Säntis»
Verena Schoch, 2009/2010Fotografien / Standpunkt St. Anton
«Trainingsgelände für Seebuben»
Marcel Elsener, 2015
RADAR (ungekürzte Version)
Trainingsgelände für Seebuben / Marcel Elsener
Für einen Rorschacher Seebuben ist das Appenzeller Vorderland ein zwiespältiger Raum: begeh- und begreifbar als Hinterland, aber als solches auf den zweiten Blick durchaus geschätzt für Hügelläufe, Bergprobierplätze, Versteckorte. Vor allem Heiden geniesst seine ungebrochene Sympathie.
Vorne der See, hinten der Berg, der ohne Stadt nicht leben kann. Für einen Rorschacher leuchtet der Begriff Vorderland fürs angrenzende Appenzellerland nicht ein: Weil sein Lebensblick auf die Weite des Sees ausgerichtet ist, und er in jugendlichen Jahren bald die westlichen (St.Gallen, Konstanz, Zürich) und östlichen (Vorarlberg) Ausgänge sucht, ist das sogenannte Vorderland buchstäblich hinten, im Rücken, vergessen. Es erscheint ihm zwar als wohltuende Rückwand, aber kaum als verlockendes Hinterland. Und mit seinen Einwohnern verbindet er den Begriff der Hinterwäldler (mit Bläss). Ganz zu schweigen vom eigentlichen Appenzeller Hinterland – und vom vermeintlich alles beherrschenden Ostschweizer Hausberg S., den er noch nicht einmal sieht.
Mit den Eltern auf dem Rorschacherberg genügt die Aussicht vom Fünfländerblick vollauf – natürlich geht der Blick vom Kretenweg zum See und nur husch auf die andere Seite. Wanderungen im Appenzellischen bleiben zum Glück selten, das ständige Hügeliuuf-hügeliaab zwischen Blässen und Zäunen nervt, viel lieber gehen wir Buben ins Gaissauer Riet oder Goldachtobel. Doch halt: Den einen Vorderländer Hügel lernt man schon als Primarschüler schätzen. Der Kaien mit Skilift am Bärenhang ist ideales Übungsfeld, hernach die Skis zu buckeln und nach dem Aufstieg über den Rossbüchel die Rorschacherberger Hänge hinunterzuwedeln ein Ereignis. Freizeitvergnügen, aber auch Arbeitsweg: Es ist von Grubern zu lesen, die einst täglich zu Fuss zur Feldmühle schuften gingen – fraglich, ob sie das in Schneewintern auf Brettern taten. Da hatten es Heidener oder Wienächtler einfacher: Sie nahmen die Heidenerbahn, 1875 eröffnete Bahnverbindung, faszinierend steil – immerhin heisst sie Rorschach-Heiden-Bergbahn – und lange Zeit nicht nur von Ausflüglern genutzt.
600 Meter geht es vom See hoch auf den Berg, die beiden Grub liegen hinter einem Pass, aussichtslos zwischen den Hügelketten. Stets verblüfft die Autofahrt die Steig hinauf, 18 Prozent Steigung, meist mit Ziel Heiden. Dort lässt sich, wie man als reifender Gymnasiast merkt, gut fernschweifen und reden, wenn geredet werden muss (statt nur geküsst). Kein Zufall, dass die gefährlichste Autofahrt meines Lebens eine Rückkehr aus Heiden ist: im VW-Käfer einer Fastliebschaft in einer Winternacht, die Strasse vereist, im Schritttempo mehr rutschend als fahrend die Kurven hinab, zuhause noch schlottern die Knie. Seltsam übrigens, dass die Heidenerstrasse nur unten so heisst, weiter oben wird sie zur Bergli-, Landegg- und Schwendistrasse, das soll einer begründen.
Nein, kein schlechtes Land, dieses Hinter-Vorderland, dem Bodensee oder dem Rheintal zugewandt, Aussichts- und Sehnsuchtsraum und doch verwinkelt genug für allerhand Nischen. Vom Appenzeller gewiss das beste Land, das freigeistigste und innovativste. Gutkraftland, wenn man so will, was der Friedensweg mit Stationen für internationale Vorderländer Friedensstifter wie Henry Dunant und Carl Lutz belegt. Die anderen Themenwege, Gesundheits- und Witzweg, naja, müssen nicht sein. Aber ein Ehrenplatz für Heiden, mit seinem wunderbaren alten Schwimmbad, mit dem 1935 eröffneten und in die Gegenwart geretteten Lichtspieltheater Rosental, mit der Linde, Bö und Dorfmuseum...
Zum offenen Vorderlandgeist, der so gar nicht den Blässen und Zäunen entspricht, gehört Wald mit seinem Ausländerstimmrecht - und dem Birli, dem alten Bauernhaus der Kulturstiftung, in dem schon mancher Weltgereister kaum mehr gehen mochte. Sinnigerweise schnitt hier der kanadische Filmemacher Peter Mettler seinen grossartigen Transdenzenz-Filmessay "Gambling, Gods and LSD". Das Appenzeller Vorderland mit seinen verwunschenen Hügeln und sagenhaften Naturheilkräften war Aussteigern der 1970er-Jahren als prädestiniertes Trip-Hinterland erschienen; "schräge Vögel, Künstler und anderswo Handikapierte gedeihen hier ganz gut", fabulierte Schriftsteller Peter Morger. Wenn nicht Landkommunen, wie eine legendäre in Rehetobel, so doch günstiger Landwohnraum für stadtmüde Freaks finden sich bis heute. Sogar in den merkwürdigen W-Orten, Wolfhalden, das sich dem Formel-1-Millionär Schumi verweigerte, und Walzenhausen, das den Christus-Sektenguru Ivo Sasek ertragen muss.
Eigentlich eine Schande, dass unsereiner heutzutage fast nur winters ins Vorderland fährt, um auf der Landegg ein bisschen zu laufen und hernach im Unterrechstein thermal bewässert zu dösen. Höchste Zeit, das verlockende Hinterland wieder vermehrt in den Vordergrund zu rücken.
PDF«Rorschach-Heiden-Bergbahn»
Bilder: Staatsarchiv, um 1900«Die Lichtgestalt Albrecht von Graefe»
Gedächtnis Museen, 20151 Willy Künzler „Augen von ganz Europa suchen die Heilung der Augen-Medizin von Albrecht von Graefe im Kurort Heiden“, 2009
2 Der Urenkel Hanns-Albrecht von Graefe (*1936) und die Gipsbüste seines Urgrossvaters Albrecht von Graefe (1828-1870)
3 Die Sandstein-Gedenktafel am Freihof in Heiden
«Gut gebaut in Wolfhalden»
Gedächtnis Denkmalpflege, 20151 Gesamtansicht Wolfhalden
2 Überbauung Kronenwiese
3 und 4 Überbauung Friedberg