Ausgabe

KULTURERBE

No. 47 | 2023/3

«Obacht Kultur» N° 47, 2023/3 spürt dem Kulturerbe nach.

Auftritt: Caroline Ann Baur;
Illustrationen: Sophia Freydl;
Bildbogen: Karin Bucher und Thomas Karrer; Georg Gatsas;
Texte: Margrit Bürer und Theres Inauen; Sarah Elena Müller; Andreas Geis u.v.m.

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Thema

an der Oberfläche kratzen

von Ursula Badrutt

Sobald er einen Palast sehe, egal wo, tauche bei ihm unwillkürlich die Frage auf, woher das Geld komme. «Ich habe schon an manchen Palast-Oberflächen gekratzt», sagt Hans Fässler, «und bin überraschend oft auf koloniale Vergangenheit gestossen.» Der Historiker, Kabarettist und langjährige Mittelschullehrer an der Kantonsschule Trogen beschäftigt sich seit bald einem Vierteljahrhundert mit Fragen postkolonialer Verwicklungen. Dass sie einen Teil des Kulturerbes ausmachen und dass deren Sichtbarmachung und Vermittlung gefördert werden muss, ist für ihn selbstverständlich. «Trogen und die Zellweger sind geradezu ein Paradebeispiel für unser Kulturerbe», sagt er. Dass die Geschichte der Kaufmanns- und Politikerfamilie Zellweger dank den intensiven Recherchen von Heidi Eisenhut, die 2019 in die Publikation «Wunderlich kommt mir die Baute vor» mündeten, nun noch präziser bekannt ist, sei sehr wichtig. «Jetzt ist klar, dass die Familie in das transatlantische, sklavereibasierte Wirtschaftssystem integriert war, aber selber keine Plantagen und somit auch keine Sklavinnen und Sklaven hatte.» Er greife nun sogar korrigierend ein, wenn «Zellweger» und «Sklavenhaltung» einfach gleichgesetzt würden. Weitere Recherchearbeiten seien nötig, sei es zu Bühler (Geschichte von Johannes Klee), Speicher (Plantagenbesitz der Familie Schläpfer) oder Herisau (Indiennes-Imperium des Jean-Rodolphe Wetter). Oder wo auch immer die Textilindustrie, der Handel mit Baumwolle, Kaffee, Zucker, Schokolade oder anderem Erfolg und Reichtum gebracht und bis heute markante Spuren hinterlassen haben. «Unsere kolonialen Verflechtungen sind Teil unseres Erbes, Teil unserer aktuellen Gegenwart und Teil unseres Selbstverständnisses.» Dass sich in den letzten Jahren weltweit und vor der Haustüre sehr viel getan habe, stimme ihn zuversichtlich. Postkoloniale Studienrichtungen gehören heute so selbstverständlich in universitäre Ausbildungsprogramme wie die Forderung nach Engagement bei der Förderung des professionellen und ethischen Umgangs mit historisch belastetem Kulturerbe. Präzis diese Forderung setzt auch in der neuen Kulturbotschaft des Bundes, die sich aktuell in Arbeit befindet, einen Akzent. Ausstellungen wie «Blinde Flecken» in Zürich, die für 2024 geplante grosse Kolonialausstellung im Landesmuseum, das partizipative Projekt «Wege der Vielfalt » der Stadt St. Gallen oder das Filmprojekt «Stoff / Lace Relations» aus dem Vorarlbergischen, das den textilen Verknüpfungen zwischen Nigeria, Amerika und Österreich nachspürt und auch die Ostschweiz einbindet, sind nur wenige Beispiele dazu. Vielleicht wirke er manchmal «überfokussiert», meint Hans Fässler selbstkritisch, und die Personalunion von Historiker und Aktivist werde nicht von allen gern gesehen. Doch können nicht gerade solche Doppelrollen dazu beitragen, Kulturerbe als wichtigen Teil unserer Schweizer Identität noch besser sichtbar zu machen?

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