Ausgabe

KULTURERBE

No. 47 | 2023/3

«Obacht Kultur» N° 47, 2023/3 spürt dem Kulturerbe nach.

Auftritt: Caroline Ann Baur;
Illustrationen: Sophia Freydl;
Bildbogen: Karin Bucher und Thomas Karrer; Georg Gatsas;
Texte: Margrit Bürer und Theres Inauen; Sarah Elena Müller; Andreas Geis u.v.m.

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Gestaltungsräume Vererben

von Margrit Bürer / Theres Inauen

Stiftungen sind wirk- und machtvolle «Agenturen» in Prozessen des Erbens und Vererbens. Wer eine Stiftung gründet – seien es Einzelpersonen, Familien oder Unternehmen – will damit über die eigene (Lebens-)Zeit hinaus in die Gesellschaft wirken, diese mitgestalten, Schwerpunkte setzen, Dinge ermöglichen oder auch bewahren. Stiftungen sind ein Erbe an die Gesellschaft der Zukunft; dessen Verwaltung jedoch ist eng geknüpft an die Rahmenbedingungen, welche in der Stiftungsurkunde von den Stiftenden festgelegt wurden. Dabei geht es neben der Erfüllung des Zweckartikels nicht zuletzt auch darum, wie mit dem gestifteten Vermögen umgegangen wird: Können die Mittel nach Bedarf ausgegeben werden, bis das entsprechende Vermögen aufgebraucht ist? Oder soll die Stiftung mit ihrem Vermögen auf Dauer fortbestehen und damit ausschliesslich die Erträge des Stiftungsvermögens für die Zweckerfüllung einsetzen? Viele Stiftungen verpflichten sich dem Kulturerbe, dessen Erhalt, Pflege und Vermittlung. So garantieren sie die Erhaltung eines «wichtigen» Bauwerks, sie ermöglichen die Erforschung und Verbreitung eines «bedeutsamen» literarischen OEuvres oder sie finanzieren kulturelle Institutionen und Projekte, welche dem künstlerischen Schaffen der Vergangenheit und der Gegenwart eine Sichtbarkeit verleihen. Indem sie dies tun, definieren Stiftende und Stiftungen immer auch mit, was in einer Gesellschaft heute und in Zukunft als «wichtige, bedeutsame, sehenswerte» Kultur erachtet wird. In der Vergangenheit gegründete Stiftungen haben einen grossen Einfluss darauf, was wir heute als «kulturellen Kanon» verstehen und was wir als «Kulturerbe» schätzen. Stiftende vererben auch ihre Bewertungssysteme von «guter» Kultur und die damit verbundenen Wertehaltungen. Die 2015 an der Kulturlandsgemeinde in Heiden lancierte Stiftung Erbprozent Kultur erprobt seit nunmehr acht Jahren, wie es gelingen kann, die etablierten Prozesse des (Ver-)Erbens gemeinschaftlich, generationenübergreifend und demokratisch zu gestalten. Sie lädt alle – unabhängig von Vermögen, Alter, familiären Verhältnissen oder gesellschaftlicher Stellung – dazu ein, ein Prozent ihres zukünftigen Erbes der Stiftung zu versprechen und so das Vererben über die privaten, familiären Grenzen hinauszudenken. Alle Erbversprechenden – die zukünftigen Stiftenden – können zu Lebzeiten die Aktivitäten und Schwerpunktsetzungen der Stiftung mitgestalten und weiterentwickeln. Sie bestimmen mit, welche Kultur heute angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen «wichtig» ist. Mit dem Erbversprechen ist somit auch das Statement verbunden, dass die Dringlichkeiten und Bewertungen von heute sich nicht auf die Zukunft übertragen und vererben lassen. Vielmehr vererben die Stiftenden von Erbprozent Kultur mit ihrem Beitrag einen Möglichkeits- und Gestaltungsraum, verbunden mit der Aufforderung und der Erwartung, dass folgende Generationen immer wieder neu verhandeln, welches Kulturschaffen gefördert werden soll, welches Kulturerbe in zukünftigen Gegenwarten sicht- und hörbar gemacht werden muss und wie Kultur gesellschaftlichen Wandel mitgestalten kann.

Margrit Bürer, geboren 1955, ist Mitinitiantin der Stiftung Erbprozent Kultur und aktuell deren Präsidentin.
Theres Inauen, geboren 1985, vertritt im Stiftungsrat von Erbprozent Kultur die Erbversprechenden.

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