Ausgabe

KULTURERBE

No. 47 | 2023/3

«Obacht Kultur» N° 47, 2023/3 spürt dem Kulturerbe nach.

Auftritt: Caroline Ann Baur;
Illustrationen: Sophia Freydl;
Bildbogen: Karin Bucher und Thomas Karrer; Georg Gatsas;
Texte: Margrit Bürer und Theres Inauen; Sarah Elena Müller; Andreas Geis u.v.m.

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Frischluft

Renn, Fötus!

von Sarah Elena Müller

Es tradieren sich in mir keine Bräuche und Gepflogenheiten. Keiner Familie, keiner Gemeinschaft und keiner Ortschaft. Ich kann nicht häkeln, noch sägen, kann keinen Pythagoras, keinen Apfelstrudel und bin schlecht in Zuversicht. Mein Wissen ist: Du bist allein, allein an allem schuld und Schmiedin deines Glücks und Unglücks – Ärmel hoch und durch! Schnell, Fötus! Renn, Fötus! Letzteres sei noch pränatale Vorahnung, habe ich erfahren, von meiner Selbsthilfehelferin. Sie sagt, dagegen helfe nur meditative Früherziehung, per Audiodildo in der Vagina der Schwangeren, beruhigende Klänge. Sonst keine Chance, von draussen dröhnt bereits Versagensangst durch den Mutterbauch, ist vielleicht schon im Blut der Mutter, vorprogrammiert, sowieso. Es gibt in mir keine selbst genähten Vorhänge zum Zuziehen. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich auf die Tatsachenwelt. Ohne Filter, ohne Gnade. Kein behagliches Ritual, das mein Fernbleiben, meinen Rückzug oder ein Ausschalten der digitalen Endgeräte rechtfertigt. Es gibt ein paar Liedanfänge, die beim Joggen im Gehirn rumscheppern: Das Wandern ist des Müllers Lust und seine Frau hat Zopf gebacken und sein Hund beisst den Stock, der das Feuer schlägt, denn die Vögel wollen Fidirii. Doch das viele Joggen macht die Lieder immer kaputter und bald sind es nur noch Silben. Wenn mir sonst was runterfällt und zerbricht, werfe ich es weg. Wenn ich eine geleimte Tasse sehe, muss ich weinen. Wenn ich die Hände meines Vaters anschaue, wird mir unheimlich. Es sagen sich in mir der Nikolaus und die Ostergans gute Nacht. Es ist vollbracht, die Föten fürchten und fressen sich nun selbst und von allein, schöne Rente dir auch. Kein Schurz, kein Hut, kein Schmuck und keine Maske zeigen mir den Ausstieg aus dem Getöse an und kein Getöse ist laut genug, mich dem Tagwerk zu entreissen. Als spirituelle Vollwaise verzichte ich auf die Zitzen der Heilsbringer und Ratgeberinnen, die Kommunion und der sichere Hafen sind mir unerreichbar. Nur hin und wieder erlaube ich mir die Selbsthilfehelferin, die mir hilft, mir selbst zu helfen. Neulich, da sagte sie mit entrücktem Gesicht, es gibt eine quantenmechanische Methode, wie sie an ihrer Hand mein ganzes Wesen heilen kann, stellvertretend. Mein Wesen in ihrer Hand, wenn ich es nur wolle. Wo denkt sie hin? Wie könnte ich so was gutheissen. Ich wahre stets die Kontrolle über die Hände, ihre und meine, von denen ich in den Mund schaufle, was ich erwirtschafte. Es sind in mir die Verdienste meiner Vorfahr*innen bewusst und ich lebe frei und strebsam. Ihre unerfüllten Sehnsüchte wehen mir in die Segel und ich habe die Pflicht, voranzukommen. Feiern macht mich ratlos, Gedenken ungeduldig, Trauern und Warten – unmöglich. Ich suche den Sinn nicht, der Sinn sucht mich, er ruft quo vadis, er macht Klicklaute unter Wasser, er raunt im dunklen Wald, aber dort gehe ich nie hin, nicht ans Meer und nicht in den Wald, denn ich habe keinen Bezug. Von Kunst und dergleichen Besinnlichkeiten lasse ich mich nicht aufhalten. Direkt ab Herkunft renne ich in meine Zukunft, unaufhaltsam stürmen ich und meine Mitföten voran, wickeln noch unsere Nabelschnur auf, während wir schon zum finalen Sprint und Sprung ins Grab ansetzen. 

Sarah Elena Müller, 1990 geboren, arbeitet spartenübergreifend in den Bereichen Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Ihr Debütroman «Bild ohne Mädchen» wurde mit dem Literaturpreis des Kantons Bern 2023 ausgezeichnet und war für den Schweizer Buchpreis 2023 nominiert. Sie lebt in Bern.

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