Ausgabe

KULTURERBE

No. 47 | 2023/3

«Obacht Kultur» N° 47, 2023/3 spürt dem Kulturerbe nach.

Auftritt: Caroline Ann Baur;
Illustrationen: Sophia Freydl;
Bildbogen: Karin Bucher und Thomas Karrer; Georg Gatsas;
Texte: Margrit Bürer und Theres Inauen; Sarah Elena Müller; Andreas Geis u.v.m.

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Gedächtnis

Von der Absturz- zur Fundstelle

von Dr. Leandra Reitmaier-Naef

Um zehn Uhr am Abend des 25. April 1944 hob die «3E + DX» im niedersächsischen Reinsehlen zu einem Nacht-Übungsflug nach Friedrichshafen ab. Wohl infolge eines Motorenbrandes sah sich die fünfköpfige Besatzung bereits nach kurzer Flugzeit gezwungen, die Maschine aufzugeben und mit dem Fallschirm abzuspringen. Nach rund 450 Kilometern Alleinflug mit Kurs Richtung Bodensee schlägt das Flugzeug schliesslich kurz nach Mitternacht zwischen den Wienachter Weilern Tanne und Tolen auf dem Felsen auf. Die Maschine wird beim Aufprall vollständig zerstört, Trümmerteile werden in alle Himmelsrichtungen geschleudert. Beim Unglücksflugzeug handelte es sich um eine in Dessau entwickelte Junkers Ju 188, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Nachfolgemodell des deutschen Standard-Kampfflugzeugs Ju 88 eingesetzt wurde. Der zweimotorige Mitteldecker erreichte Geschwindigkeiten von über 500 Stundenkilometern und verfügte über einen charakteristischen blasenförmigen «Glashaus»-Rumpf sowie spitz zulaufende Tragflächen. Die «3E + DX» war der einzige Flieger dieses Typs, der je in den Schweizer Luftraum einflog – bei insgesamt immerhin 250 Notlandungen und Abstürzen von Kampfflugzeugen auf Schweizer Boden zwischen 1939 und 1945. Durch den Unfall im April 1944 kamen – wie durch ein Wunder – weder die Besatzung noch Anwohnende nahe der Absturzstelle zu Schaden. Nichtsdestotrotz dürfte das Ereignis bei der Wienachter Bevölkerung bleibenden Eindruck hinterlassen und das seit fünf Jahren im nahen Ausland andauernde Kriegsgeschehen zu einer noch unmittelbareren Erfahrung gemacht haben.

Heute sind vom Unglücksflugzeug nur noch zwei Archivschachteln voller Wrackteile und ein Dokumentationsordner übrig. Dieser Bestand ging nach dem Tod des «Trümmersuchers » Walter Huber im April 2023 in den Bestand des Staatsarchivs Appenzell Ausserrhoden über, der kantonalen Meldestelle Archäologie. In mühevoller Kleinarbeit hatte Walter Huber seit den 1950er-Jahren zahlreiche Funde aus dem Boden der Absturzstelle geborgen: Bleche mit Einschusslöchern, Umlenkrollen, Schraubdeckel, Munition und vieles mehr. Weitere Objekte, darunter auch besonders prestigeträchtige Stücke wie das Typenschild oder ein verbogenes Maschinengewehr, das erst Monate nach dem Absturz auf einem weit entfernten Obstbaum gefunden worden sein soll, befinden sich in Privatbesitz. Der Grossteil der Flugzeugüberreste wie etwa das Fahrwerk, die Motoren sowie Rumpf- und Flügelteile wurde allerdings bereits unmittelbar nach dem Absturz vom Schweizer Militär «nach Dübendorf spediert und dem Altmaterial zugeführt». Vor diesem Hintergrund sind die wenigen noch greifbaren Überreste der Maschine aus archäologischer Sicht als Glücksfall einzustufen. Das Tätigkeitsfeld der heutigen Bodendenkmalpflege beschränkt sich nämlich längst nicht mehr nur auf steinzeitliche Seeufersiedlungen, römische Tempel oder mittelalterliche Burgen und Kirchenanlagen. Spätestens seit der Jahrtausendwende sind auch die materiellen Hinterlassenschaften der jüngeren und jüngsten Vergangenheit – des Anthropozäns – in ihren Fokus geraten. Die Weltkriegsarchäologie bildet dabei nur einen von zahlreichen Bereichen der sogenannten Historischen oder Zeitgeschichtlichen Archäologie und ist nicht nur in Deutschland wesentlich für die Aufarbeitung und Erinnerungskultur der NS-Zeit.

Wienacht erinnert heute auf den ersten Blick nichts mehr an das Ereignis von vor bald achtzig Jahren, das Geschehene ist wohl auch weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Zudem wurde das Gelände des ehemaligen Trümmerfeldes kürzlich durch eine neu angelegte Deponie markant überprägt. Dank der Sicherung und Erforschung der Funde und der zugehörigen Dokumentation können die Ereignisse aber langfristig nachvollzogen werden. Und: Einige der akribischen Suche entgangene Fragmente der Ju 188 dürften durch die Materialaufschüttungen auf Dauer im Boden geschützt bleiben.

Dr. Leandra Reitmaier-Naef, geboren 1987, studierte Prähistorische Archäologie und Humanökologie an der Universität Zürich und promovierte zur prähistorischen Kupfergewinnung im Oberhalbstein (Graubünden). Sie ist Kantonsarchäologin von Glarus und an verschiedenen Forschungsprojekten beteiligt.

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