
SCHAUPLÄTZE
No. 51 | 2025/1Das «Obacht Kultur» N° 51, 2025/1 ist auf Spurensuche.
Auftritt: Serafin Krieger;
Bildbogen: Brenda Osterwalder, Thomas Flechtner, Gaston Isoz;
Texte: Urs Bühler, Davide Tisato, Stefan Wagner u.v.m.
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Fensterblick
Über eine Perspektive des Wandels
von Davide Tisato
Ich sitze im Zug und schaue aus dem Fenster. Einer meiner Lieblingsorte, um in Gedanken zu versinken. Hast du schon einmal die Augen einer Person betrachtet, die aus dem Zugfenster schaut? Sie zucken schnell hin und her, hin und her, hin und her. Sie klammern sich an einen Gegenstand, verfolgen ihn, während er an ihnen vorbeirauscht, und bevor er von der Vergangenheit verschluckt wird, springen sie wieder vor und klammern sich an etwas Neues. Sie oszillieren, wie von einem unsichtbaren hypnotischen Pendel bewegt. Während meine Augen hin und her zucken, macht es in meinen Gedanken «Fenster-Blick-Platz-Bewegung».
Ein Schauplatz bezeichnet einen Ort, auf den sich die Blicke richten. Dazu muss er unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. An einem Schauplatz geschieht etwas. Da Schauen ein Akt ist, der mit Erkenntnisgewinn verbunden ist, nehmen wir dadurch etwas wahr. Der italienische Schriftsteller Italo Calvino beschrieb in seinem Buch «Le città invisibili» eine Stadt, die vollkommen anders wahrgenommen wird, ob man vom Meer oder von der Wüste her zu dieser blickt. So können auch Schauplätze ganz unterschiedliche Formen und Bedeutungen annehmen, je nachdem, aus welchem Fenster man sie betrachtet.
Im Rathaus am Landsgemeindeplatz Trogen, einem uns allen bekannten Schauplatz, wurde im Jahre 1637 die als Hexe abgestempelte Agathe Rohner (Dornesslerin) zum Tode verurteilt. Mit Bedauern für mein Beispiel stelle ich gerade fest, dass das Frauenstimmrecht im Kanton Appenzell Ausserrhoden 1989 an der Landsgemeinde in Hundwil angenommen wurde und nicht auf demselben Platz, wo 352 Jahre zuvor Agathe Rohner nach ihrer Verurteilung ihren Tod fand. Es hätte aber auch in Trogen geschehen können, wenn das Appenzeller Stimmvolk ein Jahr früher aufgewacht wäre.
Was ich mit diesem Gedankengang aufzeigen will, funktioniert trotzdem: Ein Schauplatz verändert sich nicht nur je nach Standpunkt, von dem aus man ihn betrachtet, sondern auch je nach Zeitpunkt. So können sich am selben Ort diametral entgegengesetzte Ereignisse abspielen. Was mich am Zugfenster fasziniert, wenn sich meine Augen an einem Objekt festklammern, ist, dass sich die beiden oben genannten Beispiele in wenigen Sekunden kondensieren und beobachtbar werden. Ein Baum sieht von vorne anders aus als von hinten, und vielleicht wird er genau in dem Moment gefällt, in dem ich ihn aus dem Zugfenster betrachte.
In Bewegung zu sein verändert nicht nur unseren Blickwinkel, sondern bringt auch den zeitlichen Aspekt der Veränderung mit sich. Ich glaube, es wäre interessant, unsere Denkstrukturen zu verändern und die Schauplätze, die uns umgeben – sei es das Stück Strasse vor unserem Wohnzimmerfenster oder ein internationaler Konflikt – nicht von einem festen Standpunkt aus zu betrachten, sondern aus der Perspektive der Bewegung, des Nomadismus, der ständigen Migration. Auf diese Weise könnten einige festgefahrene Vorstellungen in Frage gestellt werden und neue fruchtbare Denkweisen entstehen. Dies dank des Betrachtens von Schauplätzen. Ich wünsche dir viel Inspiration bei der nächsten Zugfahrt, dem nächsten Spaziergang oder Fensterwechsel.
Davide Tisato, geboren 1990, aufgewachsen in Heiden, Filmschaffender, setzt sich in seinen Arbeiten mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen in ihrer globalen Dimension auseinander. Aktuell arbeitet er an einem Film, der die Verlassenheit italienischer Dörfer thematisiert.