Ausgabe

FARBE

No. 46 | 2023/2

«Obacht Kultur» N° 46, 2023/2 setzt Farbakzente.

Auftritt: Zora Berweger;
Umschlag: Laura Signer;
Bildbogen: Christian Hörler;
Texte: Ruth Erat, Arthur Rüegg, Akshay Pathak u.v.m.

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Gedächtnis

DIE SEHNSUCHT NACH FARBE

von Timothy van der Wingen

Schon unmittelbar nach der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 kam der Wunsch auf, die Welt in ihren natürlichen Farben abzubilden. Auf dem langen Weg zur Farbfotografie wurde diese Sehnsucht durch das Handkolorieren von Schwarz-Weiss-Bildern gestillt. Heute kann dafür künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt werden.
Bereits aus der Pionierphase der Fotografie ist ein koloriertes Porträt der Ausserrhoderin Anna Barbara Tobler-Zellweger (1784–1846) überliefert. Das Porträt der in Speicher wohnhaften Tochter des Quartierhauptmanns Ulrich Zellweger von Gais wurde um 1840 mittels Salzpapierabzug (Talbotypie) aufgenommen. Darüber hin aus wurde es koloriert, das heisst mit von Hand aufgetragener Farbe versehen. Fotografie und Kolorierung stammen vom St. Galler Zeichner, Stecher und ersten Schweizer Fotografen Johann Baptist Isenring (1796–1860). Zudem soll er schon 1840 – unmittelbar nach der Erfindung der Fotografie – Daguerreotypien mit Staubfarben koloriert haben.

Manuelle Kolorierung
Einem ähnlichen Wunsch nach lebendigerer Darstellung ist wohl Erwin Streuli (1880–1948) gefolgt. Im Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden ist der handkolorierte Fotobestand dieses Heidener Arztes überliefert. 77 Glasdiapositive wurden in den 1930er-Jahren von ihm mit Pinsel farblich bearbeitet. Er initiierte das Schwimmbad Heiden und das Tourismus-Magazin «Appenzellerland» und legte die Sammlung insbesondere als Förderer des Tourismus und Vorstandsmitglied des Verbandes appenzellischer Verkehrsvereine an. Dafür benutzte er Aufnahmen des Fotografen Gross aus St. Gallen. Für deren Kolorierung berief er sich wohl auf seine Erinnerung, seine Vorstellung oder auf die farbliche Überprüfung vor Ort.

Digitale Einfärbung
Auch wenn es seit den 1930er-Jahren Farbfilmmaterial gibt und dieses ein paar Jahrzehnte später für alle erschwinglich war, hält der Wunsch, die Vergangenheit visuell in die Gegenwart zu rücken und sogar die Geschichte einzufärben, unvermindert an. So erlangte in den vergangenen Jahren die «Colorized History»-Bewegung als Unterkategorie der Online-Plattform «reddit» grosse mediale Aufmerksamkeit. Darauf präsentieren historisch interessierte Personen die von ihnen erstellten digitalen Nachkolorierungen. Meist stammen die dafür verwendeten Schwarzweiss-Fotos aus amerikanischen Bildarchiven. Die Richtigkeit der Farbgebung lässt sich jedoch nicht überprüfen.

Handarbeit oder künstliche Intelligenz: beides Interpretationen
Die manuelle Kolorierungsmethode war anspruchsvoll und erforderte viel handwerkliches Geschick. Dabei wurden stark verdünnte Eiweiss-Lasurfarben mit feinen Pinseln auf die Diapositive aufgetragen. Für ein authentisches Ergebnis war fundierte Kenntnis der Farbgebung der jeweiligen Epoche wichtig. Auch für die digitale Nachkolorierung mittels Bildbearbeitungsprogrammen wie beispielsweise Photoshop braucht es technisches und im Idealfall historisches Wissen. Durch die künstliche Intelligenz entwickelt sich hingegen ein neuer Ansatz: Mit Hilfe von Algorithmen und maschinellem Lernen kolorieren Computerprogramme automatisch. Diese Technik basiert auf einer umfangreichen Datenbank mit farbigen Referenzbildern. Das System lernt daraus, Farben auf die Graustufen anzuwenden, denn letztere deuten mögliche Farbtöne an. Die Verfahren weisen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auf: Während die manuelle sowie die digitale Kolorierung eine individuelle Interpretation erlaubt, ist die KI-basierte Methode aufgrund der Trainingsdatenbank auf allgemein akzeptierte Farbpaletten beschränkt. Handarbeit erfordert Zeit und Können, während die Kolorierung mit KI schnell und automatisiert ist. Allen gemeinsam ist, dass anhand externer Faktoren – seien es die Ideen oder Absichten der kolorierenden Person oder die Datenbank der KI – neue Farbinformationen generiert werden, die nicht notwendigerweise der Realität entsprechen.

Timothy van der Wingen, geboren 1995, aufgewachsen in Heiden und wohnhaft in Amsterdam, arbeitet als freischaffender Grafiker.

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