Ausgabe

FARBE

No. 46 | 2023/2

«Obacht Kultur» N° 46, 2023/2 setzt Farbakzente.

Auftritt: Zora Berweger;
Umschlag: Laura Signer;
Bildbogen: Christian Hörler;
Texte: Ruth Erat, Arthur Rüegg, Akshay Pathak u.v.m.

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Thema

Mit Weisspigmenten per du. oder auch nicht.

von Vera Marke

Weiss ist nicht gleich Weiss. Grundsätzlich unterscheiden wir Weiss als Licht im Sinne von Newton und Weiss als Pigment im Sinne von Goethe. Doch auch weisse Pigmente sind nicht einfach weiss. Gleich einem Gedicht lesen sich deren Namen: Alabastergips, Beinweiss, Champagnerkreide, Glimmer, Eierschalenweiss, Kremserweiss, Lithopone, Marmormehl, Perlmuttweiss, Quarzmehl, Titandioxid, Wismuthweiss, Zinkoxid. Alle diese Weisspigmente befinden sich bei mir im Atelier, gehören zu meinem Alltag als Künstlerin und Forscherin im Medium der Malerei. Pigmente bilden den Ausgangspunkt meiner Arbeit. Aus ihnen koche ich Grundierungen, reibe Farbe an oder töne einen Farbton ab. Die genannten Pigmente sind weisse, unlösliche Pulver, gemahlene Materie. Sie bilden die grösste Menge der verwendeten Pigmente. Das Reflexionsvermögen der Weisspigmente dient in der Malerei zur Regulierung des Lichts, sowohl im gemalten Bild als auch im Anstrich. Mit einigen Weisspigmenten habe ich Freundschaft geschlossen. Champagnerkreide zum Beispiel. Sie fehlt in keiner Grundierung, macht diese geschmeidig und zaubert ein warmes Licht ins Bild. Auch mit Zinkoxid bin ich seit Jahren per Du. Dieses Weisspigment ist fluoreszierend, es reflektiert mehr Licht zurück, als es aufnimmt. Zudem hat es die Eigenschaft, halbdeckend zu sein. Das bedeutet, dass es eine Malschicht nie ganz verschliesst. Dies ermöglicht, Einblick in untere Schichten zu erhalten, was meiner Vorstellung vom aufgefalteten Bildraum in die Hände spielt. Der Preis ist allerdings, dass die daraus angeriebene Farbe zäh ist und sich die Arme nach dem Malen schwer anfühlen. Mit anderen Weisspigmenten hat sich auch über all die Jahre keine Nähe entwickelt. Titandioxid ist so ein Pigment, das ich in meiner malerischen Praxis vermeide und im Pigmentregal zuhinterst einordne. Titanweiss verfügt über ein grosses Deckungsvermögen, erscheint als kalter Weisston und drängt sich optisch grell in den Vordergrund, sodass mir die Augen schmerzen. Gemischt mit bunten Pigmenten ergibt Titanweiss künstlich wirkende Farbklänge, die mich an Spielzeug aus Plastik erinnern.

Ausserhalb meines Ateliers wird Titanweiss (PW6) universal eingesetzt. Jährlich werden 7,2 Millionen Tonnen davon produziert. Es gilt als das meistverwendete Weisspigment. Wir kommen täglich mit ihm in Berührung, sei es beim Anblick von gestrichenen Wänden, beim Auffüllen von Kopierpapier oder beim Abwaschen von weiss glasiertem Geschirr. Als Farbstoff wird Titandioxid als E171 bezeichnet und gilt als Weissmacher für Tabletten, Käse, Backwaren und Kosmetika oder als UV-Schutz in Sonnencremes (CI 77891). Da ich als Malerin besonders sensibilisiert bin auf Materie, die aus Tuben gedrückt wird, ist mir kürzlich aufgefallen, dass meine Zahnpasta transparenter und die Mayonnaise gelblicher geworden ist. Diese farblichen Veränderungen haben ihre Ursache in einem Gesetz zum Verbot von Titandioxid in Lebensmitteln, das in der Schweiz am 15. März 2022 in Kraft getreten ist und eine Übergangsfrist von sechs Monaten erhielt. Der bisher als gesundheitlich unbedenklich eingestufte Weissmacher gilt mittlerweile als «nicht mehr sicher» und verschwand schleichend von unseren Tellern. Das Gesetz beeinflusst die Tonalität von Weiss in unserem Alltag. Die veränderten Valeurs von Weiss werden unsere Seherfahrung prägen und unsere Augen neu einstellen. Farbe erreicht uns unmittelbar, ganz nebenher. Bevor wir darüber nachdenken können, welche Bedeutung die Farbe Weiss in einem kulturellen Kontext erfüllt, welche Erfahrungen wir damit verbinden und wie sie symbolisch aufgeladen ist, hat sie bereits Wirkung auf uns ausgeübt. In der christlich geprägten Kultur beispielsweise steht Weiss für Reinheit, Unschuld, Frieden, aber auch für Klarheit und Sauberkeit. Diese Zuschreibungen schwingen unterschwellig ebenso mit wie die tägliche Seherfahrung im Umgang mit Zahnpasta oder Mozzarella. Diese Transformation der Farbigkeit unserer Alltagswelt ist kein neues Phänomen: Durch Erfindungen oder Verbote von Pigmenten hat es in der Geschichte immer wieder Umwälzungen gegeben. Bleiweiss zum Beispiel prägte seit der Antike als warmer Weisston die Seherfahrung der Menschen, war bis Mitte 19. Jahrhundert das einzige Weisspigment für die Ölmalerei, bevor es sukzessiv von Zinkoxid (ab circa 1840) und Titandioxid (ab circa 1920) abgelöst wurde. Sowohl das malerische Modellieren im Impasto, beispielsweise die dicken Malschichten bei Giovanni Segantinis Winterlandschaften, als auch die bunten Ölanstriche in Appenzeller Bauernhäusern sind bestimmt von den vorzüglichen Eigenschaften von Bleiweiss.

Das Pigment beschleunigt die Trocknung von Ölfarbe, weshalb es gerne als Imprimitur (letzte Grundierungsschicht) verwendet wurde. Bleiweiss bestimmt die Hautfarbe (Inkarnat) in den Tafelbildern und wurde wegen seiner Deckkraft für die «hohen Lichter», beispielsweise für die Glanzlichter in den Augen, angewandt. In der Anstrichtechnik begrüsste man die imprägnierende Wirkung auf das Holz, das dadurch vor Pilz-, Bakterien und Insektenbefall geschützt war. Zudem hellte Bleiweiss Schminkprodukte und Hautcreme auf, was zu Bleivergiftungen führte. In Japan diente das giftige Pulver sowohl als Schminke der Geishas als auch als Lebensmittelfarbe. Das kaiserliche Verbot folgte um 1600 und Bleiweiss wurde von «Gofun Shirayuki», einem Perlweiss aus zerstossenen Muschelschalen, ersetzt. Europa verbot das Bleiweiss später: zunächst 1887 in der Kosmetikindustrie, ab 1930 als Innenanstrich, und seit 1987 gänzlich. Dies machte Titandioxid zum meistverwendeten Weisspigment. Nun geht es dem Titandioxid ähnlich wie dem Bleiweiss im letzten Jahrhundert: Durch das Verbot in Lebensmitteln verliert es an Sichtbarkeit. Die Valeurs von Weiss in unserem Alltag werden transparenter, wärmer und sanfter. Dieser Wandel kommt meinen Augen entgegen.

Vera Marke, 1972 geboren, ist Künstlerin und Dozentin «Technologie der Malerei», lebt und arbeitet in Herisau und Hundwil.

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